Gestern Abend wieder eine Situation wie sie seit Monaten zu
unserem täglichen Arbeitsalltag gehört:
Ein Patient kommt mit seiner Heilmittelverordnung zur
Terminvereinbarung für Manuelle Therapie.
Unsere Terminkapazitäten sind voll ausgeschöpft.
Ich erkläre ihm, dass ich ihm in den nächsten Wochen entweder drei vereinzelte Termine anbieten kann, dort wo noch irgendwelche Lücken
in unserem Plan sind und ab Mitte Juli 2x wöchentlich.
Dann könne er zumindest die ersten Übungen erlernen und zwischen den Terminen zu Hause selbstständig
durchführen. Sollte es dazwischen bei uns zu einem Ausfall kommen, rutscht vielleicht noch ein Termin dazu.
Möchte er nur zusammenhängende Termine, kann ich ihm diese
eben erst ab Mitte Juli anbieten.
Dann müsse er auf seiner Heilmittelverordnung noch einen späteren Behandlungsbeginn vom Arzt eintragen lassen, denn die HMVO müssen lt. Rahmenvereinbarungen der Krankenkassen innerhalb 14 Tage begonnen
werden bevor sie verfallen.
Er entscheidet sich für die erste Variante.
Später klingelt das Telefon.
Die Frau des Patienten beschwert sich über die ausgemachten Termine.
„Das geht so nicht. Mein Mann hat jetzt Schmerzen und Probleme und Schwindel, er muss 2x wöchentlich Termine bekommen. Er kann nicht warten. Sie müssen ihm Termine geben. Sofort.“
Das würde ich sehr gerne.
Aber wie?
Unsere Terminpläne platzen seit Ewigkeiten aus allen Nähten.
Wartezeiten auf Krankengymnastik und Manuelle Therapie belaufen sich
regulär auf Minimum 4 Wochen, leider eher länger.
Für Manuelle Lymphdrainage, spezielle Neuro Behandlungen (PNF) und Hausbesuche jeglicher Art haben wir seit Monaten einen
Aufnahmestop für Neupatienten.
Und noch sind wir in fast Vollbesetzung anwesend mit 4 Physios und
1 Masseur & med. Bademeister.
50 Stunden in der Woche.
Demnächst beginnt bei uns die Urlaubszeit, denn auch wir Therapeuten
brauchen mal ne Pause. Wir gehen versetzt in Urlaub, damit die Praxis immer geöffnet ist. Aber fehlt ein Therapeut, werden die Terminkapazitäten
eben noch geringer.
Gut gemeinter Vorschlag von Vielen:
„Stellt doch noch jemanden ein!“
Wir suchen seit 2,5 Jahren einen neuen Kollegen zur
Am liebsten eine Vollzeitstelle, damit unser Chef mit seinen 64 Jahren
endlich mal ein paar Stunden reduzieren könnte.
Aber auch halbe Stellen oder stundenweise,
einen Therapeuten zu finden ist so
schwer.
Und das nicht nur bei uns.
Alle Praxen suchen.
Deutschlandweit.
Allein in unserem Heidelberger Stadtteil gibt es fünf Praxen.
Alle haben lange Terminwartezeiten. Alle suchen Therapeuten.
Und der Therapeutenmangel wird immer schlimmer.
Warum das so ist?
Physiotherapeut ist ein unglaublich unattraktiver Beruf geworden.
Ausbildungskosten:
3 Jahre lang durchschnittlich 500 €/Monat.
Fortbildungskosten:
durchschnittlich 3000 €/Zertifikat,
z.B. für Manuelle Lymphdrainage, Manuelle Therapie,
Neurobehandlungen, KG am Gerät…
Durchschnittlich (!) 2300 € Bruttolohn.
Durchschnittlich 20 Min/Behandlung/Patient
inkl. Befund, Dokumentation, Umziehen…
Also im Schnitt 3 Patienten pro Stunde, 8 – 10 Stunden am Tag.
Körperlich, geistig, emotional anstrengende Arbeit.
Das ganze Drumrum mit Heilmittelrichtlinien, Rahmenverträgen, DSGVO wird immer aufwendiger, das man dafür schon fast ein eigenes Studium braucht.
Und wenn dann doch mal eine Heilmittelverordnung in die Abrechnung rutscht, auf der ein Kreuz falsch sitzt, ein kleines a im Indikationsschlüssel fehlt oder sonstiger Kruscht, den man übersehen hat weil es uns ja eigtl um die Therapie gehen sollte und nicht um die Korrektheit der gefühlt 1 Mio. Vorschriften der Kostenträger & KVs, dann bekommen wir unsere Leistung vielleicht gar nich bezahlt
und haben umsonst gearbeitet.
Wen wundert es bei den Bedingungen,
dass sich immer weniger junge Leute zum Physiotherapeuten ausbilden lassen?
,dass immer mehr Therapeuten zu anderen Berufssparten wechseln oder in benachbarte Länder auswandern?
,dass immer mehr Therapeuten an ihr absolutes körperliches, geistiges und emotionales Limit kommen?
,dass viele Praxen gezwungen sind, Patienten und/oder bestimmte Leistungen abzulehnen?
,dass viele Praxisinhaber an ihre Existenzgrenze stoßen, obwohl Terminkapazitäten voll ausgelastet sind?
Ich könnte ewig so weiter machen…
Ich liebe diesen Beruf.
Die Arbeit mit und am und für den Menschen.
Funktionen und Bewegungsabläufe verbessern/optimieren/wiederherstellen, Motivation & Spaß an Bewegung unterstützen/vermitteln,
Schmerzen lindern/nehmen, Lebensqualität geben/verbessern,
die Verantwortung für den eigenen Körper lehren,
die Faszination für den menschlichen Körper weitergeben.
Das Alles ist Physiotherapie.
Nicht einfach nur Beruf, nein, Berufung.
Aber ganz ehrlich, auf Dauer ist es das nicht wert.
Nicht wert sich selbst kaputt zu machen, weil unsere Regierung
an den falschen Stellen spart.
Nach 40 Jahren Arbeit kannst du als Physio von einer Regelrente von durchschnittlich 900 € monatlich ausgehen.
Läuft.
Nicht.
Vor 3 Jahren hab ich zusätzlich den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt,
als Physiotherapeutin für Hunde, im Kleingewerbe nebenher.
Noch mehr körperliche, geistige und emotionale Arbeit.
Aber ich liebe auch diese und sie macht nen Heidenspaß.
Und sichert mir etwas Rente im Alter, denn jetzt hab ich am
Ende des Monats ein bisschen was übrig zum Sparen...
Die Physiotherapie hat keine Lobby.
Aber wir haben Euch – die Patienten!
Kämpft für Eure Therapie, für Eure Therapeuten!
Macht Lärm, macht aufmerksam,
lasst Euren Ärger raus über wochenlange Wartezeiten und Co!
Und zwar an den richtigen Stellen:
bei Euren Kostenträgern,
bei Euren Abgeordneten,
bei Eurem Gesundheitsminister,
unterschreibt die Petition,
nutzt die Reichweite der Social Media,
benutzt die Hashtags ,
teilt was das Zeug hält,
unterstützt die laufenden Aktionen,
schickt Videos und Bilder,
unterstützt Eure Praxen und Eure Therapeuten!
Die Physiotherapie wird kaputt gespart.
Eure Therapeuten sind am Limit.
Also Arsch hoch und helft mit!
Denn was wäre eine Welt ohne Deinen Physiotherapeuten?
https://www.change.org/p/bundesministerium-f%C3%BCr-gesundheit-verbesserung-der-berufssituation-in-der-physiotherapie-und-den-heilberufen
https://therapeuten-am-limit.de/
© Text: Mele Hanauer
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